Man kann die Lewis-Säure-Theorie in Bezug auf die Hauptgruppenelemente nicht angemessen verstehen, wenn man nur einfache Lewis-Strukturen zeichnet (die per Definition bei allen Hauptgruppenelementen vollständige Oktette haben sollten) und dann versucht, Elektronenpaarakzeptoren zu finden. Nun, um ganz ehrlich zu sein, könnte man bei Borverbindungen Glück haben, aber dann ist das Spiel zu Ende.
Dass Metallkationen als Lewis-Säuren wirken können, ist den meisten Menschen relativ klar: Sie sind positiv geladen, weil sie mindestens ein Elektron verloren haben. Außerdem haben sie relativ tief liegende Orbitale (z.B. dasjenige, das ein Elektron verloren hat), mit denen die Lewis-Basen wechselwirken können. Bei Molekülen wie $\ce{CO2}$ muss man sich allerdings mehr Gedanken machen.
Um ein Molekül wie $\ce{CO2}$ zu analysieren, sollte man sich zunächst Gedanken über die Polarität der fraglichen Bindungen machen. Aus dem Periodensystem oder der entsprechenden Datenseite geht hervor, dass Sauerstoff viel polarer ist als Kohlenstoff; daher sind die Bindungen in Richtung Sauerstoff polarisiert. Dies kann durch den Partialladungsformalismus wie unten gezeigt veranschaulicht werden.
$$ce{\overset{\delta -}{O}=\overset{\delta +}{C}=\overset{\delta -}{O}}\tag{1}$$
Diese erste Darstellung sagt uns bereits, dass Kohlenstoff etwas „elektronenarm“ ist. Das allein ist zwar noch kein Beweis für die Lewis-Säure, aber ein starker Hinweis. Wenn man tiefer eintaucht, muss man die Molekülorbitale von $\ce{CO2}$ betrachten. Es gibt zwei symmetrisch äquivalente, aber senkrecht zueinander stehende π-Systeme, die beide von vier Elektronen bevölkert werden; und beide können als ein π-System vom Typ eines Allyl-Anions betrachtet werden. Da es vollständig symmetrisch ist, können wir die folgenden drei Resonanzstrukturen zeichnen (zur Verdeutlichung wurde das Allylanion $\ce{C3H5-}$ ebenfalls in das Schema aufgenommen).
$$$$begin{array}{ccccc}\ce{O=C=O &<->& \overset{+}{O}#C-\overset{-}{O} &<->& O=\overset{+}{C}-\overset{-}{O}}\\\ce{H2\overset{-}{C}-CH=CH2 &<->& H2C=CH-\overset{-}{C}H2 &<->& H2\overset{-}{C}-\overset{+}{C}H-\overset{-}{C}H2}\end{array}\tag{2}$$
In dieser Darstellung, habe ich die linke Doppelbindung als zum senkrechten π-System gehörend und die rechte als die interessante Doppelbindung analog zum Allyl-Anion gewählt. Auf der linken Hälfte des Kohlendioxids befindet sich also immer eine Bindung mehr als beim Allylanion. Die negative Ladung (d. h. das einsame Paar) am Kohlenstoff des Allylanions ganz links entspricht einem einsamen Paar des Sauerstoffs ganz links im Kohlendioxid; das einsame Paar ist gemäß der Konvention unmarkiert.
In diesen Darstellungen können wir eine Resonanzstruktur beobachten, bei der der Kohlenstoff des Kohlendioxids eine positive Ladung und damit ein Elektronensextett hat. Betrachtet man die betreffenden Orbitale, so zeigt sich, dass die beiden besetzten bindenden Orbitale (eines davon kann als nichtbindend bezeichnet werden) einen hohen Sauerstoffanteil aufweisen, während das antibindende π3-Orbital hauptsächlich kohlenstoffzentriert ist. Dieses Orbital ist auch das niedrigste unbesetzte Molekülorbital (LUMO) und somit das Orbital, das uns bei der Bestimmung der Lewis-Säure interessiert. Wir stellen fest, dass es energetisch niedrig liegt und leicht zugänglich ist, so dass Lewis-Basen (z. B. Hydroxid, Ammoniak) leicht mit ihm wechselwirken können.
Die Lewis-Säure-Base-Reaktion kann auch anhand der Resonanzstrukturen erraten werden. Da die Lewis-Base mit dem antibindenden π3-Orbital wechselwirkt, bricht sie eine der $\ce{C=O}$-Doppelbindungen auf, was zu der folgenden Struktur führt:
$$$ce{\color{cyan}{O}=C=O + \color{blue}{O}H- -> H\color{blue}{O}-C(=\color{cyan}{O})-\overset{-}{O}}\tag{3}$$
Ich habe die Sauerstoffatome in Blau und Cyan (und Schwarz) markiert, damit man sie voneinander unterscheiden kann.