Allgemeiner Wille
BIBLIOGRAPHIE
Der Begriff des allgemeinen Willens umfasst die moralischen Werte und die politischen Bestrebungen, die von den Mitgliedern eines Gemeinwesens geteilt werden und mit denen die Politik ihrer Regierung weitgehend übereinstimmen muss, wenn diese Regierung als legitim angesehen werden soll. Der Begriff wurde in dieser minimalen Bedeutung von Jean Jacques Rousseau, seinem Urheber, verwendet, der ihn auch, was noch wichtiger ist, zur Beschreibung des Willens zur Gerechtigkeit benutzte, der seine ideale Demokratie kennzeichnen und seinen autoritativen Ausdruck in gesetzgeberischen Entscheidungen finden sollte.
Seit Rousseau sind dem Begriff je nach der politischen Theorie, in die er eingebettet ist, unterschiedliche und präzise Bedeutungen beigegeben worden; diese hatten als primäres und gemeinsames Ziel die Anpassung an die Analyse der Politik und des nationalen Charakters. Typischerweise wurde eine Theorie des allgemeinen Willens verwendet, um die Institutionen der konstitutionellen und liberalen Demokratie zu erklären, zu rechtfertigen und vorzuschreiben, insbesondere von Denkern, die der britischen idealistischen Schule des politischen Denkens angehören oder von ihr beeinflusst sind. Oft wird das Vorhandensein eines allgemeinen Willens zum Kardinalkriterium des Gemeinwesens gemacht und als wesentliche Voraussetzung für politische Stabilität und Selbstverwaltung angesehen.
Für Rousseau war der „allgemeine Wille“ der Begriff, mit dem er seine Theorie der politischen Verpflichtung zusammenfasste und ihre logische Abhängigkeit von den psychologischen, ethischen und verfassungsrechtlichen Komponenten seiner politischen Philosophie darlegte. In Rousseaus idealer Gesellschaft, wie sie im Gesellschaftsvertrag dargestellt wird, ist das natürliche Recht auf moralische Freiheit, nach dem Diktat des eigenen Gewissens und des eigenen Moralempfindens zu leben, psychologisch und institutionell mit der sozialen Notwendigkeit politischer Autorität versöhnt, weil das Gesetz dort den Wunsch des Einzelnen nach Gerechtigkeit widerspiegelt. Gesetze, die den allgemeinen Willen zum Ausdruck bringen, werden sowohl von der Vernunft als auch vom Gewissen akzeptiert und sollen daher die Freiheit nicht einschränken, sondern erweitern und erhalten.
Rousseaus allgemeiner Wille impliziert, dass weder eine Gesellschaft, der es an einem allgemeinen Willen mangelt, noch eine Regierung, die ihn missachtet, rechtmäßige Autorität über den Einzelnen haben kann. Das Fehlen von Institutionen, die für die Schaffung des allgemeinen Willens unerlässlich sind, bedeutet unweigerlich eine moralische Entstellung der menschlichen Persönlichkeit und eine Enttäuschung über die Fähigkeit des Menschen, natürlich gut zu sein. Nach Rousseaus Auffassung von der menschlichen Dynamik und moralischen Entwicklung kann der Mensch nur in einer kleinen und gleichberechtigten Gesellschaft zu einem ethischen Wesen werden, für das die Verwirklichung der Gerechtigkeit und ihre Verbindung mit dem Anspruch auf moralische Freiheit vorrangige und zwingende Ziele sind – und auch nur dann, wenn die Menschen direkt und stetig an der Schaffung der Gesetze teilnehmen, denen sie Gehorsam schulden werden.
Die sozialen und institutionellen Erfordernisse des allgemeinen Willens, wie er von Rousseau konzipiert wurde, scheinen seine Verwendung für den Zweck der Legitimation der konstitutionellen Demokratie auf der Ebene des Nationalstaates auszuschließen. Der grundlegend moralische und synthetische Charakter des Konzepts öffnet jedoch den Weg für seine Modifizierung, die von der Hoffnung getragen ist, es an die Rechtfertigung der repräsentativen Regierung anzupassen. Dieser Prozess der Neuinterpretation begann mit Kant, der aus Rousseaus allgemeinem Willen seine Konzeption des kategorischen Imperativs ableitete, der für ihn das oberste Kriterium sowohl der Moral als auch der Legalität darstellte. Im Gegensatz zu Kants primär ethischer Erläuterung des Begriffs nimmt Hegels politische Interpretation des Begriffs die Form seiner metaphysischen und historischen Konzeption der Vernunft an. Die Hegelsche Konzeption der Rationalität als kumulativ kann als eine Historisierung des allgemeinen Willens angesehen werden. Das Ergebnis ist, dass die Versöhnung des Rechts auf sittliche Freiheit mit den Erfordernissen der sozialen Gerechtigkeit nicht durch gesetzgeberische Akte erreicht wird, sondern vielmehr durch die reflektierte Akzeptanz und willentliche Befolgung der sozialen und politischen Arrangements, die sich historisch in Form des National- und Verfassungsstaates herausgebildet haben.
Der britische Idealist T. H. Green sprach von einem allgemeinen Willen in Bezug auf die Hoffnungen und Bestrebungen eines Volkes, von denen die Regierung abhängt und auf die sie sowohl reagieren als auch fördern sollte (1882). Der ausführlichste Versuch, die Idee des allgemeinen Willens in der Begründung des liberalen Konstitutionalismus zu verwenden, wurde von Bernard Bosanquet (1899) unternommen. Er betrachtete den Staat als eine konkrete Universalie, eine dynamische und rational gegliederte Gesamtheit, deren Erfüllung in Begriffen des „Willens“ verstanden werden kann, der das bewegliche System von ineinandergreifenden Einstellungen und Funktionen ist, das eine politisch organisierte und souveräne Gesellschaft ausmacht. Hier ist der allgemeine Wille eher ein Attribut des Gemeinwesens als eine moralische Eigenschaft des Individuums und gibt als solches den Aktivitäten der Individuen sowohl Richtung als auch Bedeutung, die sich insofern selbst verwalten, als sie die Andeutungen ihrer Gesellschaft wahrnehmen und angemessen darauf reagieren.
Weniger wie Hegel und mehr wie Rousseau klingt die Theorie der „Nachbarschaftsgruppe“, die von Mary Parker FoUett (1918) vertreten wurde. Sie betrachtete die Nachbarschaft als die notwendige Quelle dessen, was Rousseau als den allgemeinen Willen anerkannt hätte, und sie drängte darauf, die demokratischen Institutionen so umzugestalten, dass diese soziale Einheit zu einer integrierenden Kraft von moralischer und politischer Bedeutung wird. Ihre Ideen haben in der Verwaltung und in der Stadtplanung wirksame Anwendung gefunden.
Andere Interpretationen des allgemeinen Willens versuchen, ihn in der Natur des Menschen in der Gesellschaft, in den psychologischen und sozialen Grundlagen der politischen Autorität und nicht direkt in der politischen Übereinkunft und der gesetzgeberischen Leistung zu verorten. Dazu gehören W. Ernest Hockings „Wille zur Macht“ (1926), der den Staat als Träger benötigt, und Robert Maclvers Umbenennung des allgemeinen Willens in den „Willen für den Staat“ (1926), der die soziale Einheit und die politische Autorität aus einer gemeinsamen Wurzel in den Freiheiten des Einzelnen und der Gruppe ableitet. Auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft ist Hugo Krabbes Behauptung des „Rechtsgefühls“ einer Gemeinschaft als Kriterium für die Gültigkeit des Rechts (1915) ein Versuch, den allgemeinen Willen in einen dynamischen Typus des Naturrechts zu überführen.
Komplexere Reformulierungen des allgemeinen Willens, die direkter im Geist, wenn auch nicht im Buchstaben der politischen Theorie Rousseaus stehen, werden in den Arbeiten von Lindsay (1943) und Barker (1951) vorgelegt. Beide betrachten die Diskussion als den für die demokratische Gesellschaft und die Regierung charakteristischen Prozess, durch den der allgemeine Wille in angemessener Differenzierung und Artikulation hervorgebracht und zum Ausdruck gebracht werden kann. In dieser Perspektive ist der allgemeine Wille das prägende Konzept in der Theorie des deliberativen Staates, wie sie in Frederick Watkins‘ Analyse des Liberalismus (1948) und in J. Roland Pennocks Darstellung der Prinzipien der liberalen Demokratie (1950) dargelegt wird. In einem deliberativen Staat ist die politische Partizipation nicht nur wesentlich für die soziale Einheit, sondern sollte auch aktiv und substanziell sein, ohne übermäßige Abhängigkeit von einer Führung oder disziplinierten und programmatischen Parteien. Die deliberative Demokratie ist der Demokratietyp, der Rousseaus Ideal am ehesten entspricht.
Betrachtet man den allgemeinen Willen im Lichte seiner Entstehung und Entwicklung, so hat er in der politischen Theorie keine einheitliche Bedeutung oder akzeptierte Rolle. Es gibt jedoch einen übereinstimmenden Kern von Bedeutung und Implikationen. (1) Als Legitimationsidee lenkt das Konzept die Aufmerksamkeit auf das Kriterium der Zustimmung des Volkes, die durch die Methoden der repräsentativen und verantwortlichen Regierung zum Ausdruck kommt; auf die Erwünschtheit einer Vielfalt von Formen der Beteiligung und des Zugangs; und auf Gerechtigkeit und Freiheit als die eigentlichen Ziele des Staates. (2) Als analytisches Konzept regt der allgemeine Wille dazu an, die Bedingungen sozialer Einheit und gemeinsamer Ziele zu berücksichtigen, die stark genug sind, um die Errichtung, Akzeptanz und Kontrolle politischer Autorität zu ermöglichen. (3) Vom diagnostischen Standpunkt aus zeigt das Konzept, dass eine Gesellschaft, der es an moralischer und politischer Einheit mangelt, wahrscheinlich nicht in der Lage ist, sich selbst zu regieren, und daher anfällig für die Auferlegung von Kohärenz und Richtung durch autoritäre Techniken und Ideologien ist. (4) In präskriptiver Hinsicht beeinflusst der allgemeine Wille weiterhin die Konstruktion der Demokratietheorie in einem liberalen, im Gegensatz zu einem mehrheitlichen Modus, und leitet die Gestaltung politischer, städtischer und administrativer demokratischer Institutionen in einer Weise, die mit der Bedeutung übereinstimmt, die Rousseau ihm gegeben hat.
Aufgrund seines grundlegend moralischen Charakters inspiriert das Konzept weiterhin die Untersuchung und Erforschung der ethischen Ziele der politischen Gesellschaft und der politischen Aktivität. Aber entsprechend seinem zusammengesetzten Charakter kann die künftige Forschung in eine Reihe von Richtungen gehen: historische Untersuchung der Entwicklung der politischen Kultur; psychologische Untersuchung der Bildung moralischer und politischer Einstellungen, insbesondere derjenigen, die für die persönliche Unabhängigkeit und Widerstandsfähigkeit grundlegend sind; Spezifizierung und Interpretation der Prinzipien der Gerechtigkeit; und Erklärung der sozialen und politischen Prozesse, die für den liberalen Konstitutionalismus sowohl in reiferen als auch in weniger reifen industrialisierten Gesellschaften wesentlich sind. Vor allem lädt das Konzept des allgemeinen Willens dazu ein, die Aufmerksamkeit auf die gegenseitige Abhängigkeit von psychologischen Prozessen, moralischem Charakter und politischen Institutionen zu richten.
John W. Chapman
BIBLIOGRAPHIE
Barker, Ernest 1951 Principles of Social and Political Theory. New York: Oxford Univ. Press.
Bosanquet, Bernard (1899) 1951 The Philosophical Theory of the State. 4th ed. London: Macmillan. → Die Veröffentlichung von 1951 ist ein Nachdruck der vierten Auflage, die erstmals 1923 erschien.
Chapman, John W. 1956 Rousseau: Totalitarian or Liberal? New York: Columbia Univ. Press.
Chapman, John W. 1960 Metropolitan Citizenship: Promises and Limitations. In Carl J. Friedrich (Hrsg.), Verantwortung. Nomos 3. New York: Liberal Arts.
Chapman, John W. 1963 Justice and Fairness. In Carl J. Friedrich und John W. Chapman (Hg.), Gerechtigkeit. Nomos 6. New York: Atherton.
Derathe, Robert 1948 he rationalisme de J.-J. Rous seau. Paris: Presses Universitaires de France.
Follett, Mary P. 1918 The New State: Group Organization, the Solution of Popular Government. New York: Longmans.
Green, Thomas Hill (1882) 1960 Lectures on the Principles of Political Obligation. London: Longmans. → Nachdruck aus Band 2 der dreibändigen Gesammelten Werke von Thomas Hill Green, herausgegeben von R. L. Nettleship und posthum veröffentlicht 1885-1888. Erstmals veröffentlicht als separates Buch 1895.
Hegel, Georg W. F. (1821) 1942 Philosophie des Rechts. Oxford: Clarendon. → Erstmals auf Deutsch erschienen.
Hocking, William Ernest 1926 Man and the State. New Haven: Yale Univ. Press.
Journees D Etude sur le „contrat social“, Dijon, 1962 1964 Etudes sur le Contrat social de Jean-Jacques Rousseau: Actes des journees d’etude organisees a Dijon pour la commemoration du 200′ anniversaire du Contrat social. Dijon, Universite, Veröffentlichungen, Neue Reihe, Nr. 30. Paris: Belles Lettres. → Siehe insbesondere S. 143-164, „Le sens de l’egalite et de l’inegalite chez J.-J. Rousseau“, von Raymond Polin.
Krabbe, Hugo (1915) 1927 The Modern Idea of the State. New York and London: Appleton. → Übersetzt aus dem Niederländischen.
Lindsay, A. D. (1943) 1947 The Modern Democratic State. Veröffentlicht unter der Schirmherrschaft des Royal In stitute of International Affairs. Oxford Univ. Press.
Maciver, Robert M. 1926 The Modern State. Oxford Univ. Press.
Pennock, J. Roland 1950 Liberal Democracy: Its Merits and Prospects. New York: Rinehart.
Pennock, J. Roland 1952 Responsiveness, Responsibility, and Majority Rule. American Political Science Review 46:790-807.
Plamenatz, John P. 1963 Man and Society: Political and Social Theory. 2 vols. New York: McGraw-Hill.
Rousseau et la philosophic politique. Annales de philosophic politique, No. 5. 1965 Paris: Presses Univer-sitaires de France.
Jean-Jacques Rousseau et son oeuvre: Probiemes et re-cherches. 1964 Paris: Klincksieck. → Siehe insbesondere die Seiten 231-247, „La fonction du legislateur chez J.-J. Rousseau“, von Raymond Polin.
Sabine, George H. 1952 The Two Democratic Traditions. Philosophical Review 61:451-474.
Watkins, Frederick 1948 The Political Tradition of the West: A Study in the Development of Modern Liberalism. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press.